23.09.22: Ethikrat veröffentlicht Stellungnahme „Suizid – Verantwortung, Prävention und Freiverantwortlichkeit“

23.09.22: Deutscher Ethikrat veröffentlicht Stellungnahme „Suizid – Verantwortung, Prävention und Freiverantwortlichkeit“

SymbolbildAm 22.09.2022 hat der Deutsche Ethikrat in der Bundespressekonferenz in Berlin seine Stellungnahme „Suizid – Verantwortung, Prävention und Freiverantwortlichkeit“ vorgestellt.

Damit verfolgt der Rat laut Pressemitteilung drei zentrale Anliegen: ein angemessenes Bewusstsein für die Vielschichtigkeit von Suizidalität schaffen, die Voraussetzungen freiverantwortlicher Suizidentscheidungen präzisieren und die unterschiedlich gelagerten Verantwortungen verschiedener Akteurinnen und Akteure im Kontext von Suizidentscheidungen und -prävention aufzeigen.

In der Stellungnahme geht es nicht um die Auseinandersetzung mit dem Bundesverfassungsgericht-Urteil von 2020 selbst bzw. mit konkreten Gesetzesentwürfen, betonte der Ethikrat in der Einleitung.

Zum Hintergrund

Nachdem das Bundesverfassungsgericht am 26.02.2020 den Straftatbestand der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung für verfassungswidrig und nichtig erklärt hatte, brandeten die schon lange bestehenden Debatten zum angemessenen Umgang mit suizidalen Krisen und dem umstrittenen Thema der Suizidassistenz und seiner Regulierung erneut auf. Der Deutsche Ethikrat hat sich in der Vergangenheit bereits in zwei Ad-hoc-Empfehlungen im Dezember 2014 und Juni 2017 mit Fragen der Suizidassistenz beschäftigt.

Mit der aktuellen Stellungnahme nimmt er die Thematik erneut auf und betont dabei vor allem die Bedeutung der Suizidprävention. Denn „wer sich damit beschäftigt, ob und gegebenenfalls wie die Beihilfe zum Suizid in Deutschland reguliert werden soll, der muss gleichzeitig die Bedingungen und Verantwortlichkeiten einer echten und umfassenden Suizidprävention in den Blick nehmen“, erklärte die Vorsitzende des Deutschen Ethikrates Alena Buyx.

Zum Inhalt

Der Deutsche Ethikrat veranschaulicht anhand ausgewählter Fallvignetten die personalen, sozialen und gesellschaftlichen Seiten von Suizidalität, um die Möglichkeiten und Grenzen des Einflusses auf freiverantwortliche Suizidentscheidungen sowie mögliche Interventionsformen auszuloten. Dabei wird deutlich, dass in aller Regel ein längerer Prozess innerer und äußerer Einengungen und Belastungen den Suizidgedanken vorausgeht. Dieser Prozess müsse keineswegs notwendig und unmittelbar zur Suizidhandlung führen.

Die Motive reichen dabei von psychischen und insbesondere depressiven Störungen sowie körperlichen Leiden über Isolation und Einsamkeit bis hin zur „Lebenssattheit“. Neben individuellen Faktoren nehmen auch die soziale und die gesellschaftliche Umwelt Einfluss auf Suizidgedanken und deren Entwicklung. Die Dynamik von Suizidgedanken und suizidalen Handlungen unterstreicht die Bedeutung einer Suizidprävention, die mögliche Risikofaktoren angemessen in den Blick nimmt.

Dennoch weist der Ethikrat in dem 134-seitigen Papier darauf hin, dass eine freiverantwortliche Entscheidung rechtlich und ethisch auch dann als Ausdruck des Selbstbestimmungsrechts zu respektieren sei, wenn es um die Beendigung des eigenen Lebens geht. Aufgrund ihrer Irreversibilität müssten freiverantwortliche Suizidentscheidungen jedoch einem besonders hohen Maß an Selbstbestimmung genügen. Das setze eine hinreichende Kenntnis der entscheidungserheblichen Gesichtspunkte und die Fähigkeit voraus, diese Punkte ausreichend und realitätsbezogen zu bewerten und gegeneinander abzuwägen. Ebenso brauche es eine hinreichende Überlegtheit, Festigkeit und Eigenständigkeit der Entscheidung.

Problempunkt Selbstbestimmung

Im Ethikrat werden verschiedene Auffassungen dazu vertreten, wann genau ein hinreichendes Maß an Selbstbestimmung erreicht ist und wie dies gegebenenfalls sichergestellt werden kann. Einigkeit bestehe jedoch darin, dass die Anforderungen an die Freiverantwortlichkeit der betroffenen Person nicht den Verfügungsspielraum über ihr Leben nehmen dürfen. Auch freiverantwortliche Suizidentscheidungen resultieren jedoch überwiegend aus Lebenslagen, in denen die Verwirklichung von Grundbedürfnissen massiv erschwert ist.

„Das auch in solchen Fällen zu respektierende Selbstbestimmungsrecht entlastet Staat und Gesellschaft in keiner Weise von der Verantwortung, so weit wie möglich dafür Sorge zu tragen, dass Menschen nicht in Situationen geraten und verbleiben, in denen sie sich genötigt sehen, den Tod als vermeintlich kleineres Übel dem Leben vorzuziehen“, erklärte der Sprecher der ratsinternen Arbeitsgruppe Helmut Frister,

„Will man betroffenen Menschen inmitten einer psychosozial verdichteten suizidalen Lebenssituation wirklich eine selbstbestimmte Lebensführung ermöglichen – und das muss der Anspruch sein –, dann stehen auf verschiedenen Ebenen viele Akteurinnen und Akteure in großer Verantwortung“, betonte der stellvertretende Sprecher der Arbeitsgruppe Andreas Lob-Hüdepohl.

Auf der Ebene professioneller und alltagsweltlicher Einzelpersonen liege die Letztverantwortung bei der suizidalen Person. Allerdings tragen auch An- und Zugehörige sowie Fachkräfte Verantwortung dafür, Perspektiven auf alternative Handlungs- und Entscheidungsoptionen zu eröffnen und somit freiverantwortliche Entscheidungen zu ermöglichen, so der Ethikrat. Die Verantwortung von Einrichtungen sieht der Ethikrat vor allem darin, ihre Angebote konsequent an den Zielen der Suizidprävention zu orientieren und Lebensbindungen zu stärken. Sollte sich allerdings der Suizidwunsch einer Person zu einem festen, freiverantwortlichen Willen verdichten, könne Suizidassistenz angeboten werden.

Suizidassistenz in Einrichtungen

Einrichtungen sollten nach Meinung des Ethikgremiums ihr Leitbild um Überlegungen zur Sterbekultur weiterentwickeln. So machen sie transparent, ob und gegebenenfalls wie in ihrem Haus mit Suizidassistenz umgegangen werde. Gesamtgesellschaftliche und staatliche Institutionen stünden demgegenüber vor allem in der Verantwortung, eine umfassende Suizidprävention zu ermöglichen – über die gesamte Lebensspanne, in allen relevanten Lebensbereichen, zeitnah und flächendeckend. Nur wenn alle beteiligten Akteurinnen und Akteure sich vernetzen, könne es gelingen, Personen eine selbstbestimmte Lebensführung zu ermöglichen und den anspruchsvollen Anforderungen an freiverantwortliche Entscheidungen Rechnung zu tragen.

„Die Bundestagsabgeordneten werden sich bald erneut mit den Gesetzentwürfen zur Regelung der Suizidassistenz beschäftigen. Wir hoffen, mit unserer Stellungnahme eine wichtige Handreichung zu liefern, nicht nur zur Gewissensschärfung, sondern auch zu den konkreten juristischen wie ethischen Bedingungen von Freiverantwortlichkeit sowie zur notwendigen Verantwortung, Suizidassistenz und Suizidprävention gemeinsam in den Blick zu nehmen bzw. als gemeinsame Gestaltungsaufgabe der Politik zu begreifen“, erklärte die Ethikrat-Vorsitzende Alena Buyx in ihrem Eingangsstatement.

Ergänzende Informationen zur Ethikrat-Stellungnahme

PDFEthikrat Stellungnahme „Suizid – Verantwortung, Prävention und Freiverantwortlichkeit“

Ethikrat plädiert für Ausbau der Suizidprävention und Stärkung der Selbstbestimmung
Aerzteblatt.de 22.09.22

Hochgradig problembewusst
Die Stellungnahme des Ethikrats zum Suizid ist der Lektüre wert und gehört von jedem Abgeordneten gelesen. Ein Kommentar.
Die Tagespost, 23.09.22

»Themenrubrik Debatte um ein Verbot der Suizidbeihilfe