07.11.08: Studie: Sterbehilfe in der Schweiz zunehmend für nicht-tödlich Kranke
In der Schweiz nehmen immer mehr Menschen, die nicht an einer tödlichen Krankheit leiden, Suizidbeihilfe von Exit in Anspruch. Zudem lassen sich fast doppelt so viele Frauen wie Männer von den Sterbehilfeorganisationen Exit Deutsche Schweiz (Stadtzürcher Fälle) und Dignitas in den Tod begleiten. Zu diesem Schluss kommt eine vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF) unterstützte Studie, die erstmals die Praktiken der beiden Organisationen untersucht und miteinander verglichen hat.
Die Studie wurde jüngst im „Journal of Medical Ethics“ veröffentlicht. Sie umfasst demnach fast alle Fälle der Sterbehilfeorganisation Dignitas sowie die Stadtzürcher Fälle von Exit Deutsche Schweiz. Also circa ein Drittel derer Fälle. Grundlage für die Studie von Forschern der Universität Zürich und der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) waren Untersuchungen zu 274 Fällen von Suizidbeihilfe durch Dignitas, bzw. 147 Fällen von Suizidbeihilfe durch Exit, die zwischen 2001 und 2004 vom Institut für Rechtsmedizin der Universität Zürich abgeklärt wurden. Zusätzlich verglichen die Forscher die Daten mit einer Studie, die alle 149 Fälle von Suizidbeihilfe von Exit von 1990 bis 2000 in der Stadt Zürich untersucht hatte.
Jede Suizidbeihilfe ist meldungspflichtig und wird durch die Untersuchungsbehörden geprüft. Unter Suizidbeihilfe versteht man die Bereitstellung oder Verschreibung eines tödlichen Medikamentes, das einer Person die Selbsttötung ermöglicht. In der Schweiz ist die Beihilfe zum Suizid, solange diese nicht aus selbstsüchtigen Beweggründen erfolgt (Art. 115 StGB), nicht strafbar und darf gemäß geltender Praxis nur urteilsfähigen Personen geleistet werden. Das Schweizer Strafgesetz schreibt aber keine medizinischen Bedingungen vor. Demgegenüber erlauben die – gesetzlich nicht bindenden – Richtlinien der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) die ärztliche Beteiligung an der Beihilfe zum Suizid nur bei Patienten am Lebensende.
Deutliche Unterschiede zwischen Dignitas und Exit
Die Forscher erhoben für ihre Arbeit u.a. Geschlecht, Alter, Zivilstand, Nationalität, medizinische Diagnose und Krankheitstypen von den Verstorbenen. Der Vergleich habe demnach deutliche Unterschiede zwischen Dignitas und Exit aufgezeigt. Während Exit bei den untersuchten Fällen von 2001 bis 2004 mit einem Anteil von drei Prozent nur ausnahmsweise Suizidbeihilfe bei Ausländern leistete, stammten bei Dignitas 91 Prozent aller in den Tod begleiteten Menschen aus dem Ausland. Dabei lag das Durchschnittsalter der Studie zufolge bei Dignitas mit 65 Jahren deutlich unter jenem bei Exit mit 77 Jahren.
„Dieser Unterschied könnte daher rühren, dass Sterbewillige aus dem Ausland genügend fit sein müssen, um in die Schweiz zu reisen“, erklärte der Arzt und Medizinethiker Georg Bosshard, der die Studie leitete, in einer Presseaussendung der Schweizerischen Nationalfonds vom 4. November. Grösser war demnach bei Dignitas der Anteil von Menschen mit einer tödlichen Krankheit: 79 Prozent der Dignitas-Patienten litten an unheilbaren Krankheiten. Dazu zählten die Forscher zum Beispiel Krebs, multiple Sklerose und amyotrophe Lateralsklerose. Bei Exit habe der Anteil zwischen 2001 und 2004 dagegen nur 67 Prozent betragen.
Patienten ohne tödlicher Krankheit
Die übrigen Patienten litten nicht an einer tödlichen Krankheit. „Meist waren das alte Menschen mit mehreren diagnostizierten Krankheiten, zum Beispiel rheumatische Beschwerden oder Schmerzsyndrome“, sagte die Soziologin Susanne Fischer, die Erstautorin der Studie. Der Vergleich mit den Stadtzürcher Daten von Exit aus den neunziger Jahren zeige, dass diese Personengruppe deutlich größer geworden sei. Von 1990 bis 2000 verzeichnete Exit 22 Prozent Sterbewillige, die nicht an einer tödlichen Krankheit litten. Zwischen 2001 und 2004 machten diese ein Drittel aller Fälle aus. Im gleichen Zeitraum sei bei Exit auch das Durchschnittsalter von 69 auf 77 Jahre gestiegen.
„Lebensmüdigkeit und ein allgemein schlechter Gesundheitszustand haben also bei älteren Menschen aus der Schweiz an Bedeutung gewonnen als Motiv dafür, Suizidbeihilfe zu suchen“, sagte Fischer. Der Grund für den Anstieg sei wahrscheinlich, dass die Sterbehilfeorganisation Exit aufgrund der grossen Nachfrage ihre Praxis gelockert habe. Exit habe in den neunziger Jahren angekündigt, sich für alte, lebensmüde Menschen öffnen zu wollen.
In einzelnen Fällen Suizidbeihilfe bei psychisch Kranken
Die auch von der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) unterstützte Studie dokumentierte des weiteren, dass sowohl Dignitas als auch Exit in einzelnen Fällen bei psychisch Kranken Suizidbeihilfe geleistet haben. Dies gelte unter Experten als umstritten, zumal nur urteilsfähigen Personen Beihilfe geleistet werden darf. „In seinem Bericht muss der abklärende Arzt deshalb Stellung nehmen zur Frage der Urteilsfähigkeit“, erklärte Bosshard. Bei den vorliegenden Fällen hätten offenbar auch die Untersuchungsbehörden die Sterbehilfe als rechtmässig beurteilt. Ihm seien jedenfalls keine Strafverfahren bekannt.
Die Untersuchung habe zudem gezeigt, dass bei beiden Organisationen in den letzten Jahren deutlich mehr Frauen als Männer Sterbehilfe in Anspruch nahmen. 2001 bis 2004 waren 64 Prozent der Dignitas-Patienten Frauen, bei Exit betrug der Anteil 65 Prozent. In den neunziger Jahren sei die Verteilung bei Exit mit einem Frauenanteil von 52 Prozent noch ausgeglichen gewesen. „Die Analyse der Gründe ist noch nicht abgeschlossen“, sagte der Pflegewissenschaftler Lorenz Imhof. Die Forscher vermuten, dass ein Faktor die höhere Lebenserwartung von Frauen ist. Sehr alte Menschen hätten oft mit dem Leben abgeschlossen. Aus Suizidstatistiken sei auch bekannt, dass sich Männer häufiger selber umbringen. Lebensmüde Frauen hingegen könnten sich eher an eine Sterbehilfeorganisation wenden.
Exit relativierte unterdessen in einer Pressemitteilung vom 04. November 2008 die Ergebnisse der Studie. Betrachte man die ganze Schweiz, steige die Zahl der von Exit in den Tod begleiteten Patienten ohne tödliche Erkrankung nicht an. Denn die Forscher hätten nur Fälle aus Zürich untersucht, daher seien die Ergebnisse für die Schweiz nicht repräsentativ. Auch seien in der Studie teilweise falsche Schlussfolgerungen gezogen worden.