18.06.09: Deutscher Bundestag beschließt Gesetz zur Regelung von Patientenverfügungen

18.06.09: Ende einer langen Debatte: Deutscher Bundestag beschließt Gesetz zur Regelung von Patientenverfügungen

Am 18. Juni 2009 hat sich der Deutsche Bundestages auf ein Gesetz zur Regelung von Patientenverfügungen geeinigt. Er beschloss in dritter Lesung mit einer Mehrheit von 317 Stimmen bei 233 Nein-Stimmen und fünf Enthaltungen einen Gesetzentwurf der Abgeordneten Joachim Stünker (SPD), Michael Kauch (FDP) und weiterer Parlamentarier, der die Patientenverfügung als Rechtsinstitut im Betreuungsrecht verankert. Damit wurde nach gut sechs Jahren Diskussion über das Thema nach langjähriger Uneinigkeit kurz vor Ende der Legislaturperiode ein vorläufiger Schlusspunkt in der Debatte gesetzt.

Künftig werden die Voraussetzungen von Patientenverfügungen und ihre Bindungswirkung eindeutig im Gesetz bestimmt. Mit einer Patientenverfügung soll dem Arzt der Wille eines Patienten vermittelt werden, der sich zur Frage seiner medizinischen Behandlung nicht mehr selbst äußern kann. Das Gesetz bedarf nicht der Zustimmung des Bundesrates und soll nach Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens am 1. September 2009 in Kraft treten.

Regelungen zu Patientenverfügungen im Einzelnen

Laut dem verabschiedeten Gesetzentwurf (Drucksache 16/8442) sind künftig Betreuer und Bevollmächtigter im Fall der Entscheidungsunfähigkeit des Betroffenen an seine schriftliche Patientenverfügung gebunden. Sie müssen prüfen, ob die Festlegungen in der Patientenverfügung der aktuellen Lebens- und Behandlungssituation entsprechen und den Willen des Betroffenen zur Geltung bringen.

Eine Reichweitenbegrenzung, die den Patientenwillen kraft Gesetzes in bestimmten Fällen für unbeachtlich erklärt, wird es nicht geben. Das heißt, sie gelten unabhängig vom Stadium der Erkrankung. Dies gilt auch, wenn der Patient, der sich nicht mehr äußern kann, in der Verfügung die Einstellung lebenserhaltender medizinischer Maßnahmen gefordert hat. Festlegungen in einer Patientenverfügung, die auf eine verbotene Tötung auf Verlangen gerichtet sind, bleiben jedoch unwirksam.

Patientenverfügungen können jederzeit formlos widerrufen werden. Niemand ist gezwungen, eine Patientenverfügung zu verfassen. Gibt es keine Verfügung oder treffen die Festlegungen nicht die aktuelle Situation, muss der Betreuer oder Bevollmächtigte unter Beachtung des mutmaßlichen Patientenwillens entscheiden. Konkret, ob er in die Untersuchung, die Heilbehandlung oder den ärztlichen Eingriff einwilligt.

Die Entscheidung über die Durchführung einer ärztlichen Maßnahme wird im Dialog zwischen Arzt und Betreuer bzw. Bevollmächtigtem vorbereitet. Der behandelnde Arzt prüft, was medizinisch indiziert ist. Dann erörtert er die Maßnahme mit dem Betreuer oder Bevollmächtigten, möglichst unter Einbeziehung naher Angehöriger und sonstiger Vertrauenspersonen. Sind sich Arzt und Betreuer bzw. Bevollmächtigter über den Patientenwillen einig, bedarf es keiner Einbindung des Vormundschaftsgerichts. Bestehen hingegen Meinungsverschiedenheiten, müssen folgenschwere Entscheidungen vom Vormundschaftsgericht genehmigt werden.

Das Abstimmungsverfahren

Vorangegangen war der endgültigen Entscheidung über eine Neuregelung zunächst eine 100-minütige Debatte. Darin trugen noch einmal alle Rednerinnen und Redner ihre Argumente vor und warben um Unterstützung für die einzelnen Gesetzentwürfe.

Danach folgte als erstes eine nicht namentliche Abstimmung über einen Antrag der Abgeordneten Hubert Hüppe, Beatrix Philipp, Prof. Dr. Norbert Lammert (alle CDU/CSU) und weiterer Abgeordneter (Drucksache 16/13262). Darin forderten sie, eine gesetzliche Überregulierung der Patientenverfügung zu vermeiden und kein Gesetz zu erlassen. Dieser Antrag wurde mehrheitlich abgelehnt. Damit wurde der Weg für eine namentliche Abstimmung über die vorliegenden Gesetzentwürfe frei gemacht.

Anschließend wurde in einer Geschäftsordnungsabstimmung per Stimmzettelverfahren über die Abstimmungsreihenfolge der insgesamt drei vorliegenden Gesetzentwürfe entschieden. Denn hierüber herrschte bis zuletzt Uneinigkeit. Die Reihenfolge würde jedoch Auswirkungen auf das Abstimmungsergebnis haben. Wegen diesen Differenzen wurde die gesamte Abstimmung bereits Ende Mai von der Tagesordnung gestrichen (siehe das Themenspecial vom 30.05.09). Mit 309 zu 258 Stimmen entschieden sich die Abgeordneten nun, erst über den Entwurf von Zöller, dann von Bosbach, und zuletzt den von Stünker abzustimmen.

Abtsimmungsergebnisse zu den Gesetzentwürfen

Der Entwurf der Unionsabgeordneten Wolfgang Zöller und Dr. Hans Georg Faust (Drucksachen 16/11493 und 16/13314) hatte neben schriftlichen auch mündlich geäußerte Erklärungen als Patientenverfügungen gelten lassen wollen. Doch musste in beiden Fällen immer der aktuelle Patientenwille von Arzt und Betreuer oder Bevollmächtigtem individuell ermittelt werden. Für den Gesetzentwurf stimmten 77 Abgeordnete, 486 waren dagegen und acht enthielten sich. Damit wurde der Text in zweiter Beratung abgelehnt.

Der Entwurf einer Gruppe um den Abgeordneten Wolfang Bosbach (CDU/CSU) (Drucksache 16/11360) hatte strengere formale Bedingungen für eine Patientenverfügung vorgesehen. Dazu gehörte unter anderem eine vorangehende umfassende ärztliche Beratung. Er wurde mit 220 Ja-Stimmen zu 344-Nein-Stimmen und zwei Enthaltungen in zweiter Beratung ebenfalls abgelehnt.

Bei der namentlichen Abstimmung über den Gesetzentwurf „Drittes Gesetz zur Änderung des Betreuungsrechts“ der Abgeordneten Joachim Stünker und Michael Kauch (Drucksachen 16/8442 und 16/13314) stimmten 320 Abgeordnete mit Ja, 241 mit Nein, fünf enthielten sich. Damit wurde der Text in zweiter Beratung angenommen. Dieser Entwurf kam damit in die dritte Lesung, wurde auch hier erwartungsgemäß angenommen und wird damit nun Gesetz.

Wie die Abstimmungen innerhalb der Fraktionen konkret aussahen, findet sich in den Abstimmungslisten des Bundestages (siehe unten).

Ende einer langen Diskussion

Über eine gesetzliche Verankerung der Patientenverfügung wurde seit langem diskutiert. Bereits im Jahr 2004 hatte das Bundesministerium der Justiz einen Referentenentwurf für eine gesetzliche Regelung vorgelegt. Da die Abgeordneten des Deutschen Bundestages dieses wichtige Thema jedoch ohne die Bindung an Fraktionsgrenzen beraten wollten, hatte die Bundesregierung auf einen eigenen Gesetzentwurf verzichtet und Bundesjustizministerin Zypries den Entwurf zurückgezogen.

Zuletzt waren die Fronten zwischen den einzelnen Gruppen mit ihren jeweiligen Vorschlägen jedoch so verhärtet, dass eine Einigung kaum in Sicht schien. Bis zuletzt feilten die Abgeordneten schließlich an ihren Gesetzentwürfen und Änderungsanträgen und kamen nun zu dem verabschiedeten Kompromiss.

Stimmen zur Neuregelung von Patientenverfügungen: Wenig Lob, viel Kritik

Von den Politikern, Kirchen, Lebensrechtsgruppen und Verbänden wurde das neue Gesetz zur Regelung von Patientenverfügungen unterschiedlich aufgenommen.

Bundesjustizministerin Brigitte Zypries zeigte sich sehr erfreut über den Bundestagsentscheid. „Endlich gibt es mehr Rechtsklarheit und Rechtssicherheit im Umgang mit Patientenverfügungen. Vor allem die über 8 Millionen Menschen, die bereits eine Patientenverfügung haben, können sich in Zukunft darauf verlassen, dass ihr Selbstbestimmungsrecht gerade in einer Phase schwerer Krankheit beachtet wird. Ich freue mich sehr, dass es nach jahrelangem Ringen gelungen ist, die Patientenverfügung gesetzlich zu verankern und damit die berechtigten Erwartungen von Millionen Bürgerinnen und Bürgern zu erfüllen“, erklärte Zypries in einer Pressemitteilung im Anschluss an die Abstimmung.

„Alle Beteiligten brauchen klare Vorgaben und verlässliche Regelungen, wenn sie über ärztliche Eingriffe bei Menschen entscheiden müssen, die ihren Willen nicht mehr selbst äußern können. Oberstes Gebot ist dabei die Achtung des Patientenwillens. Die heute beschlossene Regelung enthält daher zu Recht keine Einschränkung der Verbindlichkeit von Patientenverfügungen. Sie gelten in jeder Lebensphase. Wir knüpfen die Beachtlichkeit des Patientenwillens weder an hohe bürokratische Anforderungen noch an Art oder Stadium einer Krankheit“, so die Ministerin.

Mit dem Gesetz sei sichergestellt, dass die Menschen in jeder Phase ihres Lebens selbst entscheiden können, ob und wie sie behandelt werden möchten. Zugleich sei gewährleistet, dass bei Missbrauchsgefahr oder Zweifeln über den Patientenwillen das Vormundschaftsgericht als neutrale Instanz entscheidet.

Mehrheit für die schlechteste aller zur Wahl gestandenen Alternativen

Die Bundesvorsitzende der Aktion Lebensrecht für Alle (ALfA), Dr. med. Claudia Kaminski, bezeichnete das neue Gesetz dagegen als eine „Katastrophe“ sowohl für den Lebensschutz als auch für das Selbstbestimmungsrecht von Patienten am Lebensende. „Entgegen aller Mahnungen der Bundesärztekammer, medizinischer Fachgesellschaften, der Kirchen und der Lebensschutzbewegung haben sich die Abgeordneten mehrheitlich für die schlechteste aller zur Wahl gestandenen Alternativen entschieden. Mit der behaupteten Selbstbestimmung hat das neue Gesetz allenfalls oberflächlich etwas zu tun“, erklärte Kaminski in einer Pressemitteilung vom 18.06.09.

„Eine wahrhaft selbstbestimmte Entscheidung darüber, welche medizinische Maßnahmen ein Mensch dulden will und welche nicht, setzt eine umfassende Beratung über die Möglichkeiten und Grenzen von Therapien, ihre Verträglichkeit und mögliche Nebenwirkungen voraus. Genau dies sieht das beschlossene Gesetz jedoch ausdrücklich nicht vor“, warnte die ALfA-Bundesvorsitzende. „Auch wenn der Staat sicher nicht die Pflicht hat, seine Bürger unter allen denkbaren Umständen daran zu hindern, vorzeitig aus dem Leben zu scheiden, so hat er doch Sorge dafür zu tragen, dass Menschen in so sensiblen, Leben und Sterben betreffenden Fragen, keine Entscheidungen treffen, deren Tragweite sie – ohne Aufklärung – unmöglich in jedem Fall ermessen können“, so die Ärztin.

Auch hier versage das beschlossene Gesetz. Im Gegenteil: Mit ihm werde die in Zeiten knapper Kassen ohnehin völlig übertriebene Angst von Menschen vor einer Übertherapie schamlos ausgenutzt. Und es wird – beabsichtigt oder nicht – der Gefahr Vorschub geleistet, dass Menschen mit dem, was sie in ihren Patientenverfügungen künftig verfügen, ihr eigenes Todesurteil abfassen.

Ähnlich kritisch äußerten sich die Christdemokraten für das Leben (CDL), eine Lebensrechtsinitiative innerhalb der Union.

„Ein Gesetz, das besser ist als keins“

Auch die Deutsche Hospiz Stiftung, zeigte sich wenig erfreut über den angenommenen Gesetzentwurf. Sie hatte kurz zuvor noch eine große Kampagne gestartet und Bürger dazu aufgerufen, in persönlichen Briefen an die Abgeordneten zu appellieren, endlich ein Patientenverfügungsgesetz zu erlassen.

„Jahrelang haben wir gerungen. Wir haben zwar jetzt ein Gesetz, das besser ist als keins. Als Schulnote würde man aber nur ein ,gerade versetzt‘ vergeben“, erklärte Eugen Brysch, Geschäftsführender Vorstand der Deutschen Hospiz Stiftung in einer Presseaussendung. „Bisher wurde von Vormundschaftsgericht zu Vormundschaftsgericht unterschiedlich über lebensverlängernde Maßnahmen entschieden. Jetzt sind Leitplanken eingezogen worden. Allerdings ist die Beratung nur eine Empfehlung, so wird der Fürsorgepflicht des Staates leider nur ausreichend genüge getan. Denn echte Selbstbestimmung setzt Aufklärung voraus“, gab auch Brysch zu bedenken.

Er mahnte zudem an, dass die praktische Arbeit jetzt erst beginnt. „Schließlich entscheiden sich die Menschen für eine Patientenverfügung, weil sie Angst vor Pflege und Abhängigkeit im Alter haben. Der beste Patientenschutz ist ein die Würde wahrendes Pflegesystem und nicht ein Patientenverfügungsgesetz. Während ein Patientenverfügungsgesetz die Politik nichts kostet, wird eine reformierte Pflege die die Herausforderungen der nächsten zehn Jahre bewältigt, nicht zum Nulltarif zu haben sein“, stellte Brysch klar.

Kritik der beiden großen Kirchen

Vertreter der beiden großen Kirchen zeigten sich ebenfalls enttäuscht über das neue Gesetz. Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz (DBK), Erzbischof Dr. Robert Zollitsch, bekräftigte den Sinn einer Patientenverfügung. Denn sie entspricht dem Selbstbestimmungsrecht des Patienten. „Nach unserem Verständnis muss aber eine gesetzliche Regelung von Patientenverfügungen wie die nun vorliegende, die einseitig die Selbstbestimmung des Patienten betont, genau daraufhin überprüft werden, ob sie dem vorab verfügten Willen des Patienten und seiner individuellen Krankheits- und Sterbesituation gerecht wird. Nochmals betonen wir, dass Patienten im Wachkoma und Patienten mit schwerster Demenz sich nicht in der Sterbephase befinden“, erklärte Zollitsch.

Der Vorsitzende des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Bischof Wolfgang Huber, sieht in dem vom Deutschen Bundestag verabschiedeten Gesetz über Patientenverfügung keine Verbesserung gegenüber der bisherigen Rechtslage. Er bedauerte in einer Presseaussendung, dass der Deutsche Bundestag sich unter mehreren Möglichkeiten mehrheitlich für den Stünker-Gesetzesentwurf entschieden hat.

„Die Balance zwischen Selbstbestimmung und Fürsorge stimmt nicht.“

„Wir haben uns zwar grundsätzlich für eine gesetzliche Regelung ausgesprochen. Aber es war gerade der vom Abgeordneten Joachim Stünker initiierte Entwurf, der in den Kirchen erhebliche Kritik auf sich gezogen hat“, so Huber. Er würdigte die gehaltvolle Debatte, die der Abstimmung vorausging. Huber gab aber ebenfalls zu bedenken, dass der Gesetzentwurf einseitig von einer zu eng gefassten Vorstellung von Selbstbestimmung ausgehe. „Die Balance zwischen Selbstbestimmung und Fürsorge stimmt nicht.“

Der Ratsvorsitzende erinnerte daran, dass bei allen Gesetzesvorhaben, über die ohne Fraktionszwang entschieden worden ist, der ernstliche Versuch gemacht worden sei, in der praktischen Umsetzung so weit wie möglich auf andere Überzeugungen Rücksicht zu nehmen. „Das Instrument der Patientenverfügung ist von großer Bedeutung. Nachdem die Richtungsentscheidung getroffen worden ist, müssen nun alle Möglichkeiten ausgeschöpft werden, um wenigstens in der Umsetzung auch die kritischen Stimmen, insbesondere vieler Ärzte, so angemessen wie möglich zu berücksichtigen“, so der EKD-Vorsitzende abschließend.

Eine ausführliche Betrachtung über die konkreten Auswirkungen des neuen Gesetzes auf die bisherige Praxis bietet der Rechtsexperte Oliver Tolmein in seinem FAZ.NET Blog Biopolitik. Weitere Kommentare und Berichte zur Debatte gibt es im umfassenden Pressespiegel (siehe unten).

Ergänzende Informationen:

Drucksachen zur 2. und 3. Lesung im Deutschen Bundestag zu Patientenverfügungen

Nachfolgend finden Sie die Drucksachen und die Abstimmungsergebnisse.