20.10.19: Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP) positioniert sich erstmals zum „freiwilligen Verzicht auf Essen und Trinken (FVET)“
Die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP) hat sich erstmals zum umstrittenen Thema „Sterbefasten“ bzw. „freiwilligen Verzicht auf Essen und Trinken (FVET)“ positioniert. Der Entschluss zum freiwilligen Verzicht auf Essen und Trinken sei nicht als Suizid zu bewerten, könne aber auch nicht als Therapieverzicht eingeordnet werden. Vielmehr sei der FVET als eigene Handlungskategorie (sui generis) zu betrachten.
Es sei keine strafbare Handlung, die selbstbestimmte Entscheidung eines unerträglich leidenden Palliativpatienten medizinisch zu begleiten, heißt es in einem DGP-Positionspapier vom 11.10.19. Vielmehr würde es den Straftatbestand der Körperverletzung erfüllen, einen Menschen gegen seinen Willen zu ernähren. Das Papier wurde vom Vorstand der Fachgesellschaft gemeinsam mit weiteren Expertinnen und Experten verfasst.
„Wenn ein schwerstkranker Mensch aus freiem Entschluss nicht mehr essen und trinken will, um sein Sterben zu beschleunigen, dann ist das zu respektieren“, betonte Prof. Dr. Lukas Radbruch, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP) in einer Pressemitteilung vom selben Tag. Dennoch könne die Begleitung eines Entschlusses zum „Sterbefasten“ bzw. freiwilligen Verzicht auf Essen und Trinken „komplexe und herausfordernde Probleme im Umgang mit dem schwerstkranken Menschen, seinen Angehörigen oder auch dem Team der Hospiz- und Palliativversorgung zur Folge haben“, erläuterte DGP-Vizepräsident Dr. Bernd-Oliver Maier, Chefarzt für Interdisziplinäre Onkologie und Palliativmedizin.
Entscheidung für unmittelbar Beteiligte oft sehr schwer auszuhalten
Die Entscheidung sei für die unmittelbar Beteiligten oft sehr schwer auszuhalten. Deshalb sollten neben dem Betroffenen die An- und Zugehörigen wie auch das Behandlungsteam während der Begleitung im Gespräch gehalten und umfassend unterstützt werden. Wesentlich sei, auf Anfrage Informationen zum FVET, zum zeitlichen Verlauf, zu möglichen Folgesymptomen, Komplikationen und deren Behandlungsoptionen zur Verfügung zu stellen. Dies, ohne Einfluss auf die Entscheidung nehmen zu wollen, welche ausschließlich der Patient treffe.
Das im Deutschen Ärzteblatt erstveröffentlichte Positionspapier befasst sich ausschließlich mit der freiwilligen Entscheidung von Patienten mit lebensbedrohlichen oder lebenslimitierenden Erkrankungen, welche auf diese Weise den Sterbeprozess einleiten wollen. Einige verzichten auf Nahrung, andere zusätzlich komplett auf Flüssigkeit, manche nehmen noch geringe Trinkmengen zu sich. Auch über Art und Umfang des Verzichts entscheide allein die Patientin oder der Patient.
„Kein neues Phänomen“
FVET sei kein „neues Phänomen“ und begegne insbesondere Begleitern in stationären Pflegeeinrichtungen häufig. Vor allem die Diskussion um Sterbehilfe habe auch dazu geführt, dass um die Bewertung von FVET gerungen wurde. Das DGP-Positionspapier kommt zu dem Schluss: „Freiwilliger Verzicht auf Essen und Trinken ist nicht als Suizid zu bewerten.“
Wesentlich sei die Klärung, ob und in welchem Umfang weiterhin Essen und Trinken angeboten werden sollen, um den Betroffenen die Möglichkeit zu geben, ihren Entschluss jederzeit revidieren zu können. Fallkonferenzen oder ethische Fallbesprechungen können für eine sensible und reflektierte Kommunikation z.B. bei Unsicherheiten bezüglich des Fortsetzens des FVET oder zum weiteren Vorgehen im Team sinnvoll sein. Die kürzlich erschienene „Erweiterte S3-Leitlinie Palliativmedizin für Patienten mit einer nicht heilbaren Krebserkrankung“ gebe Empfehlungen zu Medikamenten und anderen Maßnahmen zur Symptomkontrolle am Lebensende in Abwägung von Indikation, Nutzen und Belastung.
„Ein lebensbedrohlich erkrankter Mensch, der auf Essen und Trinken verzichtet, um das Sterben zu beschleunigen, sucht in der Regel nach einem Ausweg aus einer Situation, in der er Angst vor Leiden und vor dem Verlust seiner Würde und Autonomie hat“, betont DGP-Vizepräsident Urs Münch, Psychologischer Psychotherapeut und Psychoonkologe. „Als Gesellschaft sollten wir Rahmenbedingungen für alle zugänglich machen, damit Leid gelindert, Autonomie gewährt und Menschen in Würde sterben können. Die Charta zur Betreuung von schwerst kranken und sterbenden Menschen ist der Auftrag an die gesamte Gesellschaft, diese Bedingungen zu schaffen und zu kommunizieren“, so Münch.
Ergänzende Informationen:
Positionspapier der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin zum freiwilligen Verzicht auf Essen und Trinken
Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin, Oktober 2019 (15 Seiten, PDF-Format)
Erweiterte S3-Leitlinie Palliativmedizin für Patienten mit einer nicht-heilbaren Krebserkrankung
Langversion 2.0, August 2019, Leitlinienprogramm Onkologie (550 Seiten, PDF-Format)
Charta zur Betreuung schwerstkranker und sterbender Menschen in Deutschland, Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin, Deutscher Hospiz- und PalliativVerband, Bundesärztekammer (Träger und Hrsg.)
Kontroverse Sterbefasten
Richter-Kuhlmann, Eva
Obwohl das Parlament die rechtlichen Aspekte der Suizidbeihilfe im § 217 Strafgesetzbuch vor einigen Jahren konkretisierte, werfen Grauzonen immer wieder Fragen auf. Eine davon ist – insbesondere für Ärzte – das Sterbefasten von Patienten und die ärztliche Rolle dabei.
Deutsches Ärzteblatt, Jg. 116, Heft 41, 11. Oktober 2019
Thema Palliativmedizin: Umgang mit Sterbewünschen
Radbruch, Lukas, Münch, Urs, Maier, Bernd-Oliver
Deutsches Ärzteblatt, Jg. 116, Heft 41, 11. Oktober 2019