29.03.11: Geschichtliche Aufarbeitung: Bundesärztekammer legt Forschungsbericht zu Medizin und Nationalsozialismus vor

Die Bundesärztekammer hat am 23. März 2011 in Berlin den Forschungsbericht „Medizin und Nationalsozialismus“ vorgestellt. Darin geht es um die Verstrickungen von Ärzten an Verbrechen in der NS-Zeit. „Ärzte haben in der Zeit des Nationalsozialismus aktiv an der systematischen Ermordung von Kranken mitgewirkt. Außerdem haben sich führende Vertreter der Ärzteschaft an der Vertreibung ihrer jüdischen Kolleginnen und Kollegen beteiligt. Auch wenn die Mitschuld der Ärzte an den Verbrechen der NS-Gewaltherrschaft im Rahmen verschiedener Forschungsprojekte wissenschaftlich untersucht wurde, ist die Rolle der Ärzteschaft im Nationalsozialismus bei weitem nicht ausreichend aufgearbeitet worden“, erklärte der Präsident der Bundesärztekammer, Prof. Dr. Jörg-Dietrich Hoppe.

Aus diesem Grund habe die Bundesärztekammer den Anstoß für einen Forschungsbericht gegeben. Er zeichnet die Wege der wissenschaftlichen Annäherung an diesen Themenkomplex nach und benennt Meilensteine, aber auch Desiderate der Forschung. Der Forschungsbericht wurde im Rahmen einer Gedenkveranstaltung für die Opfer der während des Nationalsozialismus von Ärzten begangenen Verbrechen präsentier. Anwesend waren bei der Präsentation in der Stiftung Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum auch der Bundesgesundheitsministers, Dr. Philipp Rösler.

Verstrickungen der Ärzte in nationalsozialistische Verbrechen

Die deutsche Ärzteschaft habe sich in den vergangenen Jahren sehr intensiv mit den Verbrechen, die von Ärzten verübt worden sind, befasst und Initiativen zur Erforschung der Rolle von Ärzten im „Dritten Reich“ aktiv unterstützt. Thematisiert worden seien die Verstrickungen der Ärzte in die nationalsozialistischen Verbrechen unter anderem auf verschiedenen Deutschen Ärztetagen. „Wir wissen, dass Ärzte nicht nur weggesehen und geschwiegen, sondern aktiv an der systematischen Ermordung von Kranken und sogenannten gesellschaftlichen Randgruppen mitgewirkt haben. Ärzte haben in der Zeit des Nationalsozialismus Tod und Leiden von Menschen herbeigeführt, angeordnet oder gnadenlos verwaltet“, sagte Hoppe.

Eine vollständige Aufarbeitung dieser Gräuel stehe noch aus. Der von einer unabhängigen Expertengruppe erstellte Forschungsbericht sei hierfür ein wichtiger Beitrag. Dem Forschungsbericht zufolge fielen den Euthanasieprogrammen der Nationalsozialisten fast 300.000 Menschen zum Opfer. Dabei sei „zu erwarten, dass diese Zahl im Zuge künftiger Forschungen noch weiter heraufgesetzt werden muss“.

Vergangenheit gegenwärtig halten

In seinem Statement betonte Hoppe, die während der Zeit des „Dritten Reichs“ von Ärzten begangenen Verbrechen – ob gesellschaftliche und auch physische Ausgrenzung jüdischer Kolleginnen und Kollegen, die Ermordung von Kranken und Schwachen oder „die widerlichen und grausamen Experimente an Menschen“ – seien eine „eindringliche Mahnung, die ärztlichen Grundwerte gegen den Zeitgeist und staatliche Eingriffe zu verteidigen. Die Opfer mahnen uns Ärzte, niemals wieder solche Untaten durch Ärzte geschehen zu lassen.“ Vergangenheit lasse sich nicht bewältigen, das Geschehene könne man nicht ungeschehen machen. Aber es bleibe die Verpflichtung, die Vergangenheit „gegenwärtig“ zu halten, so dass Lehren aus ihr gezogen werden können, bekräftigte der Ärztekammerpräsident.

Auch der Leiter der Forschergruppe, Prof. Dr. Robert Jütte, Direktor des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung in Stuttgart, wies auf den weiteren Forschungsbedarf hin. Die mit dem Bericht erstellte Bestandsaufnahme des Forschungsstandes sei für die weitere wissenschaftliche Arbeit an diesem Themenkomplex ein dringend notwendiges Arbeitsinstrument.

Die mittlerweile zu konstatierende Fülle an Literatur stelle für viele an dieser Thematik Interessierte, darunter auch junge Ärztinnen und Ärzte, ein Problem dar. Kaum jemand könne noch die gesamte Bandbreite der Forschung auf diesem Gebiet übersehen. „Selbst ausgewiesene Experten und Kenner der Materie tun sich mitunter schwer, den Stellenwert ihrer eigenen Arbeit in diesem sich dynamisch entwickelnden Forschungsfeld richtig einzuschätzen. Angesichts des inzwischen hoch differenzierten Forschungsstandes ist ein aktueller Forschungsbericht zur Geschichte der Medizin im Nationalsozialismus seit vielen Jahren überfällig“, betonte Jütte.

Forschungspreis für historische Aufarbeitung

Die Gedenkveranstaltung der Bundesärztekammer, auf der auch ein Überlebender des Holocaust, der renommierte Medizinprofessor Dr. Janos Frühling aus Brüssel, sprach, bildete zugleich den Rahmen für die Verleihung des Forschungspreises für historische Aufarbeitung, den die Bundesärztekammer bereits zum dritten Mal gemeinsam mit dem Bundesministerium für Gesundheit und der Kassenärztlichen Bundesvereinigung ausgelobt hat. Dabei zeigten sowohl die hohe Zahl sowie die überwiegend hohe Qualität der eingereichten Arbeiten, dass auch in Zukunft noch weitere Forschungslücken durch das anhaltende Interesse der nachwachsenden Ärztegeneration geschlossen werden können. Mehr Informationen zum Forschungspreis und den Preisträgern gibt es in der Mitteilung unten.

Weitere Informationen:

Die 320-seitige Publikation „Medizin und Nationalsozialismus – Bilanz und Perspektiven der Forschung“ von Robert Jütte (u.a.) ist im Wallstein-Verlag erschienen (ISBN 978-3-8353-0659-2) und ab sofort im Buchhandel erhältlich.

Mediziner im Nationalsozialismus: Jeder zweite Arzt war Mitglied in Hitlers Partei
Von Rainer Woratschka
Die Ärzteschaft will die Vergangenheit des eigenen Berufsstandes vor 1945 weiter erforschen lassen – und vor allem auch die Kontinuitäten, die es bis in die Nachkriegszeit hinein gegeben hat.
TAGESSPIEGEL 24.03.11

Ärzte im Nationalsozialismus
BMG, BÄK und KBV verleihen Forschungspreis für historische Aufarbeitung
Berlin. Bei jungen Ärztinnen und Ärzten Interesse für das Thema Medizin und Nationalsozialismus wecken – das ist eines der Hauptziele des Forschungspreises zur Rolle der Ärzteschaft in der Zeit des Nationalsozialismus.
Gemeinsame PRESSEMITTEILUNG des Bundesministeriums für Gesundheit BMG, der Bundesärztekammer und der KBV, 23.03.2011

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